Dienstag, 6. März 2007
Die Straßenbahn - "Was ist schon normal?"
"Was ist schon normal?" Die Essener Straßenbahnen jedenfalls nicht! Oder besser: ihre Fahrgäste.

Da gibt es zum Beispiel den älteren Herrn um die 55, der den Viererplatz in der vollen Bahn für sich allein in Anspruch nehmen kann. Es möchte ja eh keiner neben ihm sitzen. Dafür lehnt er sich gemütlich auf seine Plastiktüte von Aldi. Vermutlich stecken darin die Vorräte an Spirituosen für die kommenden Tage und weitere Habseligkeiten. Eine Frau und Arbeit scheint er schon lange nicht mehr zu besitzen. Schon sein Äußeres ist bedauerlich. Langer, ungepflegter Bart; die Jacke und der Pullover waren in den Siebzigern modern; und durchgelatschte Schuhe, die ein paar neue Sohlen vertragen könnten. Eigentlich gibt man solchen Menschen in den Einkaufsmeilen dann und wann mal 50 Cent in ihre Mütze.
Aber noch viel bedauerlicher als sein Aussehen ist sein Verhalten. Er lebt in einer anderen Welt, spielt Karten mit sich selbst - deutsches Blatt. Immer wieder mischt er die Karten, wie zu einer Partie Skat. Nur gehören zum Skat drei - er ist allein. Wahrscheinlich ist er so allein, dass er die Welt um sich vergisst und mit sich selbst spielt. Ich nenne das ein gestörtes Verhalten! Und damit geht der Fingerzeig nicht nur auf ihn, sondern auch auf die Gesellschaft der Metropole. Sechs Millionen Menschen leben im Ruhrpott auf oft viel zu engem Raum und treten doch nie in Kontakt. Da wo man Kommunikation am ehesten vermutet - unter Menschen - findet sie nicht statt. Eine unsichtbare Wand schiebt sich zwischen ihn und die "normalen" Menschen. "Wenn man sich im abendlichen Berufsverkehr-Gedränge schon körperlich berührt, dann also bitte nicht noch geistig!", könnte eine Erklärung dafür heißen.
Dabei macht es einen traurig. Wir leben im Überfluss und doch kommt bei immer mehr Menschen das existentielle Verlangen nach Kommunikation, nach Zuneigung abhanden. Kann ein Mensch ohne Kontakte leben? Ich meine ganz klar: nein kann er nicht!
Irgendwo steigt er aus, wartet auf die nächste Bahn...Trotzdem: unglücklich sehen seine Augen nicht aus. Vielleicht freut er sich schon auf die nächste Partie.

Ebenfalls absolut nicht "normal" ist dieser Herr hier:
so um die 35 Jahre, dunkelbraune, fettige, ins Gesicht fallende Haare, langer brauner Mantel, schwarze, robuste Schuhe. Vom Typ vielleicht ein gescheiterter Bohemian - aber können die überhaupt scheitern? Mit großen, zielstrebigen Schritten betritt er die Bahn und peilt den Vierersitz mir gegenüber an. Sein MP3-Player rockt die Bahn mit einer Art Tote Hosen aus den Achtzigern. Dazu gibts den Geruch von Weinbrand zum Vormittag. Aber das Beste: er philosophiert die nächsten zehn Minuten laut und stark über unsere verrückte Welt. Das Ganze fast im Singsang mit seiner Rockmusik:
"Wir haben so viele Waffen, wir können die Menschheit hundert mal auslöschen." ... "die Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen,..., sie werden sich bedanken."..."die Reichen stecken sich die Kohle ein und die Armen werden immer ärmer!"..."wie soll es weitergehen? - kannst du es mir sagen mein kleiner Freund?"...
So ganz Unrecht hat er damit jedenfalls nicht. Aber seine Worte laufen ins Leere. Keiner der Fahrgäste in der Straßenbahn schreit wie in der Coca-Cola-Werbung "Ja, ja, ja, es geht mir gut!" Das dumpfe Gefühl, dass es hier keinem mehr gut geht macht sich schleichend aber sicher in diesem Teil der Republik breit. Trotzdem: der Sender findet mit seiner Botschaft keinen Empfänger. Die Schallwellen laufen ins Unendliche.
Der Mann schläft ein - den Kopf auf der Brust.

Das Beste zum Schluss, denn jetzt kommt Rainer! Rainer dürfte so um die 60 Jahre alt sein. Ihn habe ich schon öfter in der Straßenbahn gesehen. Jedesmal hat er seinen besten Kumpel dabei - den Prototyp eines Straßenköters: klein, kleffend, schwarz, besudelt, struppig. Die beiden sind alles, aber nicht normal. Denn: das Herrchen liebt sein Hündchen über alles! Wie das dann aussieht in der Straßenbahn?
Also: Rainer setzt seinen Struppi immer zu sich gegenüber auf einen der gepolsterten Sitze und schaut ihn lieb an. Und dann legt er los. "ICH LIEBE DICH! ICH LIEBE DICH!" Und wieder:"Ja, ich liebe dich!" Und damit meint er eindeutig Struppi. Damit es Hund und Universum hören, beugt sich Rainer nach vorne auf Augenhöhe von Struppi und schreit immer wieder aus voller Brust:"ICH LIEBE DICH!" Die Szene ist zum schreien komisch und gehört ins Theater. Einen Seitensprung mit einer hübschen Hündin würde ihm Herrchen sicher NIE verzeihen, da bin ich mir sicher.
Wenn sich bei diesem Schauspiel der Vorhang öffnet, treten auch meistens zwei, drei rotzfreche Kerle um die 15 auf und kommen zu Rainer. Der dann:"Na ihr, heut schon was zum fingern gehabt?" Diese absolut coolen Player zocken Rainer dann zwei oder mehr Euro ab. Sie kennen sich. Die Kohle wandert sicher schnell in neue Zigaretten oder Alk.
Nicht nur die jungen Kerle sind meiner Meinung nach gestört, auch Rainer ist es. Und Struppi hat nen Hörschaden. Herrchens Schreie nach Liebe machen beide krank. Wenn ein Mensch keinen anderen Mensch mehr hat, von dem er Zuneigung bekommt, dann sucht er sich Ersatz. Dann kauft er sich nen Struppi.
Manchmal ist es, als ob die ganze Welt am Rad dreht. Manchmal muss man einfach nur noch raus aus diesem Moloch, der alles aufsaugt, was menschlich ist. Es sollte nicht heißen "Zurück zur Natur!" sondern "Zurück zum Menschen!"

Normalität liegt im Auge des Betrachters und nicht in einer Gaus`chen Normalverteilung!

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